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Presseaussendung vom 11.05.2022

„Psy“-Bereich in Österreich: Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich, rasches Handeln ist gefragt

Anlässlich der Fachtagung von pro mente Austria (11.05.2023, Klagenfurt) mit dem Motto „Die Entwicklung unserer psychischen Gesundheit – Vom Jetzt aus unsere Zukunft gut gestalten“ nahm pro mente Austria Präsident Priv.-Doz. Dr. Günter Klug zu den Auswirkungen der aktuellen multiplen Krisen und ihren Folgen für die psychische Gesundheit Stellung.

Das Dilemma rund um Vorsorge und Versorgung im „Psy“-Bereich ist derzeit in aller Munde. Berufsgruppen, die im psychosozialen und/oder sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind, wie z.B. Psychiater:innen, Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen sowie diverse Organisationen, Angehörigen- und Betroffenen-Vertreter:innen schlagen Alarm: Es gibt in Österreich große Probleme und riesige Lücken in der psychosozialen und sozialpsychiatrischen Versorgung, beginnend bei Kindern und Jugendlichen bis hin zu älteren und alten Menschen mit Demenz.

Im Zuge der diesjährigen Fachtagung von pro mente Austria, dem Dachverband von 25 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind, werden die aktuellen Probleme diskutiert und Lösungsmöglichkeiten für die Zukunft aufgezeigt.

Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich

pro mente Austria-Präsident Priv.-Doz. Dr. Günter Klug findet klare Worte: „Versäumnisse der Vergangenheit rächen sich jetzt bitter. Wir warnen schon seit Jahren, weisen immer wieder auf Schwachstellen hin und zeigen auch Möglichkeiten auf, doch die Verantwortlichen aus der Politik setzen einfach nicht die notwendigen Schritte. Dabei sind Lösungen, die auch nachhaltig sind, gerade jetzt und mit Blick auf die Zukunft dringend notwendig! Oder wollen wir bei der ‚Loch-auf-Loch-zu-Politik‘ bleiben?“

Fehler werden auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen

Alle Folgen dieser Desaster müssen die betroffenen Menschen tragen, so der Psychiater und Psychotherapeut Klug, denn ihnen fehle nun die notwendige Versorgung: „Das geht so weit, dass sich zum Beispiel betroffene Jugendliche gezwungen sehen, selbst an die Öffentlichkeit zu gehen (Anm.: siehe changefortheyouth), um sich und ihre Freunde zu schützen und zu unterstützen. Das kann nicht Ziel eines sich aus jeder Sichtweise sozial positionierenden Staates sein.“

pro mente Austria als größter Zusammenschluss von Trägern der ambulanten psychosozialen Versorgung müsse sich hier einfach zu Wort melden, stellt Klug klar und fragt: „Wie konnte es dazu kommen, dass wir nach Jahrzehnten der Psychiatriereform in dieser Situation gelandet sind? Es konnten doch in den letzten Jahrzehnten Betten in der Psychiatrie reduziert werden, da ambulante Versorgungseinrichtungen ausgebaut und die Qualität überall verbessert wurden. Es wurde also viel erreicht. Was also wurde übersehen oder war alles nicht vorhersehbar?“

Es sei, wie immer, eine Mischung, beantwortet Klug umgehend die von ihm aufgeworfene Frage. Auslösend seien Probleme in der stationären, ambulanten und niedergelassenen Versorgung und diese würden in alle beteiligten Berufsgruppen reichen, so der Experte.

Erwartbare Veränderungen zu wenig beachtet

So seien gesellschaftliche Veränderungen zu wenig betrachtet worden: „Durch immer mehr Einzelhaushalte, Alleinerzieher:innen, berufliche Mobilität, berufliche Belastung, aber auch durch technische Herausforderungen, soziale Medien und das Verschwinden ganzer Berufsbereiche wie z.B. Portiere, Boten etc. ist es deutlich schwieriger geworden, ein zufriedenstellendes Leben zu führen. Einsamkeit und chronischer Stress haben bereits vor den aktuellen akuten Ereignissen – Pandemie, Ukraine-Krieg, Probleme mit der Energieversorgung und enorme Teuerung durch Inflation – massiv zugenommen und den Boden für steigende Belastung, in Folge psychische Probleme, bereitet,“ erläutert der erfahrene Psychiater, der auch Obmann der Gesellschaft zur Förderung seelischer Gesundheit und Leiter der Psychosozialen Dienste Steiermark (Zusammenschluss der Träger) ist.

Zusätzlich habe sich die Haltung zur Arbeit verändert: Junge Menschen fordern eine ausgewogenere Work-Life-Balance. Klug: „Das bedeutet aber auch, dass sich für viele der Anspruch von den Möglichkeiten trennt und dadurch zusätzlich Druck entsteht.“

Auch die demographische Entwicklung trage ihr Scherflein zur brisanten Gemengelage bei, so Klug: „Nicht überraschend steigt die Zahl der älteren Menschen in Relation zu den jüngeren an, und die Baby-Boomer-Generation steht vor der Pension: In den nächsten zehn Jahren werden in einigen Bereichen bis zu 50% der Leistungsträger:innen in Pension gehen.“

Mit einer weltweiten Pandemie und einem Krieg in Europa mit all seinen Folgen war hingegen nicht zu rechnen. Dennoch entstehe daraus fraglos weiterer Druck, so Klug in seinen Ausführungen: „Die daraus entstehenden neuen Anforderungen und Überforderungen, sowie die Löcher, die all dies in das bestehende Angebot reißt, müssen in Zukunft erfolgreich bewältigt werden. Um diese Herkulesarbeit stemmen zu können, wird es aber mehrere Zugänge brauchen.“

ToDo-Liste für die Politik

Es bedarf sowohl einer sehr schnellen Bremsung der aktuellen Entwicklungen als auch einer quantitativ und qualitativ besseren Versorgung.

Dazu wären folgende Maßnahmen dringend nötig, so der pro mente Austria-Präsident:

1.) Verstärkte psychische Gesundheitsförderung und Prävention
Klug: „Unsere Gesellschaft benötigt wieder mehr Kontakt! Wir müssen Unterstützung bei der Vermeidung von Einsamkeit und Hilfe gegen chronischen Stress leisten.“ Chronischer Stress, wie z.B. bedingt durch ökonomische Probleme, nicht bewältigten Rückzug, Gefühl der Chancenlosigkeit und Ausgeschlossenheit aus unserer Gesellschaft. Klug: „Hier gibt es bereits bewährte Konzepte, die den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern und damit gesundheitsfördernd wirken. Diese müssen nun aber flächendeckend und einheitlich geplant umgesetzt werden.“ Je geringer der Druck auf die Menschen, desto weniger psychische Erkrankungen, was wiederum eine grundlegende Entlastung des Systems mit sich bringt.

2.) Verbesserung aller bestehenden und bisher gut funktionierenden Versorgungssysteme
Klug: “Besonders in den immer wichtiger werdenden Bereichen Kinder und Jugend sowie ältere Menschen müssen hier endlich entsprechende und nachhaltig funktionierende Lösungen in ausreichender Quantität und Qualität geschaffen werden.“

3.) Schaffung neuer Lösungen für Gruppen, die bereits bisher nicht ausreichend versorgt wurden
Für diese Gruppen – z.B. Asylwerbende ohne Systemkenntnis, Wohnungslose, Menschen mit Problemen der Geschlechtsidentität – sowie die Betreuung nach/statt psychiatrisch forensischen Unterbringungen etc. müssen zeitgemäße Lösungen geschaffen werden, so Klug. „Was wir dazu brauchen, ist neben dem Interesse, dem Willen und der Finanzierung durch die Politik sowie die entsprechende Umsetzung im behördlichen und Trägerbereich aber vor allem Eines: in die Ausbildungsqualität investieren und so die Zahl der Professionist:innen aller relevanten Berufsgruppen zu erhöhen.“

Kurz- und langfriste Maßnahmen gegen Arbeitskräftemangel im „Psy“-Bereich

Um dies zu erreichen, müsse aber das „Gejammere und Hin- und Herschieben der Aufgaben zwischen den fragmentierten Zuständigkeiten (Bildung - Gesundheit, Bund - Länder etc.)  beendet werden. Wir benötigen Akutkonzepte, um über die nächste Zeit zu kommen, aber auch langfristige und nachhaltige Planungen, da einige Ausbildungen viele Jahre dauern und wir hier ohnedies eigentlich schon zu spät dran sind.“

Klug konkretisiert: Akut benötige es eine Attraktivierung der relevanten Berufsbilder. Dies lasse sich nicht nur über das Gehalt, sondern auch über die Dienstzeiten bzw. eine vernünftige Arbeitszeitplanung und somit eine ausgewogenere Work-Life-Balance lösen. „Aber sicher nicht damit, Menschen wie Marionetten im System herumzuschieben, wie es jetzt oft geschieht“, so Klug erbost.

Und langfristig? „Es muss sofort mit einer Ausbildungsoffensive begonnen werden, um so rasch wie möglich mehr Personen ins System zu bekommen“, so Klug, und weiter: „Das bedeutet besonders im Pflegebereich finanzierte Ausbildungsmöglichkeiten schaffen, um nicht nur den Neueinstieg, sondern auch den Umstieg aus anderen Bereichen leb- und finanzierbar zu machen.“

Kurzfristig sei ein koordiniertes bundesweites Vorgehen bei der Anwerbung von benötigtem Fachpersonal aus dem Ausland gefordert sowie deren möglich unbürokratische Nostrifizierung in Österreich.

Mehr Studienplätze dringend erforderlich

Klug: „Für Fachärzt:innen ist die endlose Diskussion über Ausbildungsstellen zu beenden und positiv zu lösen. Es bedarf einer massiven Erhöhung der Studienplätze, da uns im psychiatrischen Bereich bereits Studienabsolvent:innen und Ausbildungskandidat:innen für die Facharztausbildung fehlen. Das kann allerdings nicht nur von den Universitäten entschieden werden, denn sie nehmen damit die Gesellschaft in Geiselhaft.“ In anderen öffentlichen Bereichen, wie z.B. bei der Polizei, werde seit vielen Jahren forciert ausgebildet, um die zukünftigen Abgänge decken zu können, moniert Klug: „Warum nicht auch in diesem Bereich? Wir haben bereits jetzt eine Unterversorgung im Bereich der Psychiatrie. Und in den nächsten zehn Jahren gehen 50% der Psychiater:innen in Pension.“

Weitere Lenkungsmaßnahmen dringend erforderlich

Lösungen sind also dringend gefragt. Klug ventiliert die zusätzliche Möglichkeit, dass Menschen, die in Österreich studieren und nicht eine bestimmte, noch zu definierende Zeit in Österreich arbeiten, ihre Ausbildungskosten zurückzahlen müssen. Klug: „Dies wäre ebenso eine Teillösung wie Anreize zu schaffen, um zumindest eine Teilrückführung der psychiatrischen Wahlärzte in das Gesundheitssystem zu bewerkstelligen. Denn nur dieses steht allen Menschen finanzunabhängig zur Verfügung.“

Warten auf „natürliche“ Lösung ist keine Option

In all diesen Bereichen sind also kreative, schnelle und nachhaltige Lösungen dringend notwendig. Andernfalls werde sich die Versorgung erst wieder in 20-30 Jahren, wenn die starken Geburtsjahrgänge der Babyboomer verstorben sind, langsam wieder erholen.

Klug: „Das kann nicht in unserem Sinn sein, darauf zu warten, bis die Bevölkerungsentwicklung wieder den Rahmenbedingungen entspricht. Denn das würde bedeuten, dass die massive Unterversorgung der Menschen in Österreich lange fortbesteht.

Man muss sich bewusst machen: Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, denn jede und jeder von uns kann irgendwann in eine seelische Krise geraten, bei der sie oder er Hilfe braucht.“

pro mente Austriaist der Dachverband von 25 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind. Ziel von pro mente Austria ist es, das Leben und die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen nachhaltig zu verbessern und sie und ihr soziales Umfeld zu unterstützen und zu stärken. Das Angebot der Mitgliedsorganisationen von pro mente Austria ist breit gefächert. Sie betreuen österreichweit mit ca. 5000 Mitarbeiter:innen Menschen mit psychischen oder psychiatrischen Problemen bzw. Erkrankungen.

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