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Presseaussendung vom 18.03.2022

pro mente Austria-Fachtagung „Tabus in der psychosozialen Versorgung“

Tabuthema „psychisch krank“: Nur darüber reden hilft!

Suizid, Armut und Tod – darüber spricht man nicht. Aber auch über psychische Probleme zu reden, ist für viele schwierig. Nicht ohne Grund, denn Themen dieser Art sind in unserer vermeintlich so aufgeklärten Gesellschaft nach wie vor mit Tabus belegt. Und wer Tabus – die gläsernen Wände unserer Gesellschaft – freiwillig oder unfreiwillig durchbricht, erntet gesellschaftliche Ausgrenzung – von relativ harmlosen Formen wie betretenem Schweigen über offene Signale der Ablehnung wie entsetzte Blicke oder höhnisches Lachen bis hin zu schweren Sanktionen in Form eines Ausschlusses aus der Gemeinschaft.

Unter welchen Tabus Menschen mit psychischen Problemen leiden, aber auch jene, die diesen Menschen helfen, und was man dagegen tun kann, hat pro mente Austria zum Thema der diesjährigen Fachtagung „Tabus in der psychosozialen Versorgung“ am 17. März in Innsbruck gemacht. Im Zentrum der Tagung, an der rund 350 Fachkräfte aus dem Bereich der psychosozialen Betreuung teilnahmen, stand die Frage, wie über die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen hinaus mit weiteren Tabus, denen sich Betroffene gegenübergestellt sehen, in der psychosozialen Versorgung umgegangen werden kann.

Linz, am 18.03.2022. „Allein die Tatsache, zur Gruppe der psychisch Kranken zu gehören, stellt einen gesellschaftlichen Tabubruch dar, der häufig zu sozialer Ausgrenzung führt. Menschen mit psychosozialen Problemen leiden jedoch nicht nur am Stigma „psychisch krank“ zu sein, sondern sind häufig einer Kombination mehrerer Tabus ausgesetzt: Jedes mit der Erkrankung in Zusammenhang stehende ‚Anderssein‘ wird von der Gesellschaft nur allzu oft als zusätzlicher Makel aufgefasst“, erläuterte der Psychiater und Psychotherapeut sowie pro mente Austria-Präsident Priv.-Doz. Dr. Günter Klug anlässlich der diesjährigen pro mente Austria-Fachtagung. „Die Betroffenen leiden ja nicht an einer einheitlichen psychischen Erkrankung, sie haben spezielle Problemstellungen, die jede für sich tabuisiert sind, wie zum Beispiel Sucht oder Suizidalität. Gleichzeitig gehen schwerere psychische Erkrankungen häufig auch mit Problemen wie Jobverlust, sozialem Abstieg, Armut, Scheidung, Wohnungsproblemen und der Notwendigkeit einer sozialen Unterstützung etc. einher. Daraus ergibt sich eine Gesamtbelastung, die die psychische Befindlichkeit noch deutlich verschlimmert und es sehr viel schwieriger macht, sich von diesen Problemen wieder zu befreien.“

Tabus - stillschweigend akzeptierte Regeln

„Tabus beruhen auf einem stillschweigend praktizierten gesellschaftlichen Regelwerk, das bestimmte Verhaltensweisen gebietet oder verbietet“, so Klug. Tabus werden nicht hinterfragt, sie bleiben als soziale Normen unausgesprochen, sie sind strikt und bedingungslos und es gibt sie in allen Gesellschaften. „Psychische Erkrankungen werden zumeist aufgrund eines Mangels an Wissen bzw. durch weit verbreitete Vorurteile tabuisiert: Die Bandbreite der Zuschreibungen an Menschen mit psychisch Erkrankungen reicht von peinlich über gefährlich bis hin zu ansteckend. Im deutschsprachigen Raum wird das Problem historisch noch dadurch verstärkt, dass es in der NS-Zeit tatsächlich lebensgefährlich war, psychisch krank zu sein. ‚Also besser gar nicht damit in Berührung kommen‘ ist heute noch eine weit verbreitete Ansicht, wenn es um Menschen mit psychischen Problemen geht“, berichtet der Psychiater.

pro mente Austria: „Nur Reden hilft gegen Tabus!“

Klug weist aber darauf hin, dass es keineswegs notwendig ist, die bestehende Situation als unveränderbar anzusehen: „Tabus sind keine niedergeschriebenen Regeln, sondern nicht mehr hinterfragte, emotional aufgeladene soziale Normen. Um Tabus aufzulösen, gibt es nur einen Weg: Darüber reden! Nur ein Öffentlichmachen des Themas, Gespräche über Tabus und ihre Hintergründe können helfen, etwas zu verändern.“

Gerade in einer Zeit, in der die Gesellschaft sich nicht durch den Wunsch des gegenseitigen Verstehens oder zumindest durch Toleranz gegenüber Andersdenkenden auszeichnet, ist es pro mente Austria wichtig, ein eindeutiges Signal zu setzen, dass Tabus und/oder Vorurteile nichts Unveränderliches sind. Klug: „Wir schaffen uns unsere Tabus selbst, also können wir sie als Gesellschaft auch wieder ändern.“

Breite Palette an Vortragsthemen der pro mente Austria Fachtagung

Im Rahmen der Fachtagung von pro mente Austria wurde das Thema „Tabus in der psychosozialen Versorgung“ von verschiedensten Seiten beleuchtet. So stellte Dr. med. Dipl. theol. Manfred Lütz, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt und Theologe, die These „Um die Normalen zu verstehen, muss man erst die Verrückten studiert haben“ in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. In seinem Vortrag „Neue Irre! Wir behandeln die Falschen“ hinterfragte er mit heiteren Worten und dennoch in aller Ernsthaftigkeit den Blickwinkel der dazu führt, was als gesund oder als krank empfunden wird.

„Schwierige Themen lassen sich oft leichter besprechen, wenn man gemeinsam darüber lachen kann.“ Dies ist die These des Leiters des Kriseninterventionsteams des Roten Kreuzes in Salzburg Ingo Vogl, der auch als Kabarettist bekannt ist. Er zeigte im Rahmen der Tagung auf, wie wichtig Humor als „Ausweg“ aus der Belastung ist und welch bedeutende Rolle er als Lösungsansatz spielen kann.

Einem „doppelten“ Tabu widmete Univ.-Doz. Dr. Martin Kurz, Facharzt für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin sowie Psychotherapeut, seinen Vortrag: Menschen, die im psychosozialen Bereich tätig sind und selbst an einer Suchtproblematik leiden. Stellen Menschen mit Suchtproblemen schon als Patienten im psychosozialen Bereich eine Randgruppe dar, um die sich Ressentiments und Mythen ranken, umso bedrohlicher und daher noch stärker tabuisiert ist die Betroffenheit von im System Arbeitenden. Kurz, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin am Krankenhaus Zams, beleuchtete in seinem Vortrag Gründe und Lösungsansätze für Stigmatisierung und Tabuisierung rund um das Thema Sucht.

Mit dem Thema Sexualität und Tabus befasste sich der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Lehrtherapeut der ÖGVT Prof. Dr. Johann Kinzl: Der Wandel der Sexualmoral in der modernen westlichen Welt führt zu größerer Freizügigkeit und Offenheit im Umgang mit dem eigenen Erleben. Die Grenze zwischen normaler und abnormaler Sexualität verschwimmt zusehends. Was als abweichend gilt, wird (neben individueller) aber überwiegend durch soziokulturelle Normen definiert.

Dominique de Marné, Bloggerin, Buchautorin, Sozialunternehmerin und Mental Health Advocate widmete Ihren Vortrag „Endlich sagt´s mal jemand!“ der Frage, warum ein offener Umgang auch mit schwierigen Themen gerade in der psychosozialen Versorgung von enorm großer Bedeutung ist. Welche Auswirkungen haben Tabus auf die Versorgung? Was können wir daran verändern? Und was lernen wir von den Krankheitsbildern?

pro mente Austria ist der Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind.

Ziel von pro mente Austria ist es, das Leben und die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen nachhaltig zu verbessern und sie und ihr soziales Umfeld zu unterstützen und zu stärken.

Das Angebot der 24 Mitgliedsorganisationen von pro mente Austria ist breit gefächert. Sie betreuen österreichweit mit 4.600 Mitarbeiter*innen jährlich rund 100.000 Menschen mit psychischen oder psychiatrischen Problemen bzw. Erkrankungen.

Aktuelle Presseanfragen:
Urban & Schenk medical media consulting
Barbara Urban: +43 664/41 69 4 59, barbara.urbanmedical-media-consultingat
Mag. Harald Schenk: +43 664/160 75 99, harald.schenkmedical-media-consultingat

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