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PK von pro mente Austria anlässlich 40 Jahre pro mente Austria – 28.3.2017, Wien

pro mente Austria: 40 Jahre im Dienst von Menschen mit psychischen Krankheiten

Statement Prof. Univ.-Doz. Dr. Werner Schöny, Präsident von pro mente Austria

Ich beginne mit einer Geschichte, an der sich sehr gut festmachen lässt, wofür pro mente Austria steht: Ich war noch als Arzt tätig und betreute eine etwa 40-jährige Frau mit schweren Depressionen. Sie wusste schon lange bevor sie zu mir kam, dass sie Hilfe brauchte, hatte ihre Probleme aber, wie das oft der Fall ist, lange Zeit vor ihrer Umwelt versteckt. Natürlich sind psychische Probleme umso schwerer zu behandeln, je länger sie ignoriert wurden. So musste ich dieser Frau klarmachen, dass sie um einen stationären Aufenthalt nicht herumkommen würde. Tatsächlich kam sie zum vorgesehenen Termin. Als ich sie nach einiger Zeit fragte, warum sie nie Besuch erhielt, gestand sie, dass sie ihrem Mann und ihrem Arbeitgeber nicht die Wahrheit gesagt hatte. Statt in Krankenstand zu gehen, hat sie Urlaub genommen und allen erzählt sie würde verreisen.

Man kann sich ausmalen, unter welchem Druck die Frau gestanden haben muss. Jeder Laie wird verstehen, dass eine Genesung unter solchen Umständen nur schwer möglich ist.

Dieses Fallbeispiel steht für alles, wogegen sich pro mente engagiert. Immer noch sind psychische Leiden mit einem Stigma behaftet. Betroffene fürchten – und das leider oft genug zu Recht – dass sie als schwach und arbeitscheu angesehen werden. Oder als gefährlich, auch wenn wir wissen, dass psychisch Kranke nicht öfter zu Gewalttaten neigen als andere Menschen auch.

An dieser Stelle möchte ich auch hervorheben, dass psychische Erkrankungen alles andere als eine Seltenheit sind. 33 Prozent der Menschen  sind zumindest einmal im Jahr davon  betroffen, 25 Prozent davon lassen sich deshalb vom Hausarzt behandeln. Psychische Probleme sind in zunehmendem Ausmaß Ursachen für Frühberentung und Arbeitsausfälle. Die Dauer von Arbeitsausfällen ist bei psychischen Erkrankungen länger als bei den meisten körperlichen Krankheiten. 

40 Jahre pro mente Austria: Hilfe für 80.000 Menschen

Um diese Vorurteile abzubauen und psychisch kranken Menschen effektiv helfen zu können, wurde pro mente Austria vor 40 Jahren als Dachverband der Vereine für psychische und soziale Gesundheit gegründet. Begonnen haben wir mit drei Mitgliedsorganisationen in Wien, Oberösterreich und Salzburg. Heute, 40 Jahre später, sind daraus 26 geworden, in denen sich insgesamt 3.250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Jahr für Jahr um den Aufbau und Betrieb von psychosozialen Strukturen kümmern. In unseren Betreuungseinrichtungen, angefangen von Wohnprojekten über Arbeitsplätze bis hin zur Suchthilfe, betreuen wir jährlich etwa 80.000 Menschen. Die Palette reicht dabei von niedrigschwelligen Angeboten wie Streetworkern über Beratungseinrichtungen bis hin zu hochdifferenzierten Einrichtungen im stationären Bereich.

Erfolgreiche Lobby für psychisch Kranke

Auch wenn nicht alle angeschlossenen Organisationen „pro mente“ im Vereinsnamen tragen, haben sich alle einem gemeinsamen Ziel verschrieben: Wir verstehen uns als Lobbyisten für alle psychisch Kranken. Was wir fordern und fördern wollen ist, dass diese Kranken nicht anders gesehen und behandelt werden wie Menschen mit körperlichen Leiden auch. Dazu suchen wir seit 40 Jahren den Dialog, genauer gesagt: einen Tetralog, mit den Betroffenen, Angehörigen und der Öffentlichkeit. Um den zu fördern, gibt es unter unseren Mitgliedern etwa die Angehörigen-Selbsthilfeorganisation „Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter“ (HPE).

Im Lauf der letzten 40 Jahre haben wir mit unserer Arbeit bereits viel erreicht. Wir bieten Menschen mit psychischen Leiden nicht nur ein beachtliches Netz an Hilfsangeboten, sondern haben wohl auch entscheidend dazu beigetragen, dass sich das gesellschaftliche Klima langsam wandelt. Es hat Jahrzehnte gedauert, aber mittlerweile habe ich das Gefühl, dass sich der grundsätzliche Zugang zum Thema doch wesentlich gebessert hat.

Psychisch Kranke werden nicht mehr überall automatisch als Menschen zweiter Klasse gesehen. Nach und nach spiegelt sich das auch in diversen gesetzlichen Bestimmungen wider. Früher war es zum Beispiel selbstverständlich, dass jemand mit einer psychiatrischen Diagnose automatisch seinen Führerschein verloren hat – heute wird das von Fall zu Fall geprüft und individuell entschieden. Ebenso wurden auch im Eherecht etliche diskriminierende Passagen gestrichen.

Diskriminierung noch lange nicht beseitigt

Das heißt aber nicht, dass es nicht noch Vieles zu tun gibt: Die kirchliche Ehe kann immer noch einfach deshalb aufgelöst werden, weil ein Ehepartner an einem psychischen Leiden erkrankt.

Nach wie vor decken die meisten privaten Zusatzversicherungen alle denkmöglichen Leiden ab, nur psychische sind davon ausgenommen.

Was aber vielleicht am schwersten wiegt ist die ganz alltägliche Diskriminierung am Arbeitsplatz. Keine körperliche Krankheit ist so ausgrenzend und karrierehemmend wie eine psychische. Wenn jemand wegen eines Beinbruchs für ein paar Tage oder Wochen ausfällt, wird jeder Verständnis dafür haben. Wenn jemand wegen einer Depression fehlt, reagieren die meisten Arbeitgeber immer noch mit Unverständnis.

Adäquate Arbeitsplätze sind wichtigster Integrationsfaktor

Dabei ist gerade der Faktor Arbeit einer der wichtigsten Punkte zur Integration von psychisch Kranken. Wovon ich rede ist nicht das Körbeflechten, wie wir es aus frühen psychiatrischen Einrichtungen kennen. Psychisch Kranke können nahezu jede Tätigkeit verrichten, solange das Umfeld auf ihre speziellen Bedürfnisse abgestimmt ist. Wir sehen das täglich in Wirtschaftsbetrieben, mit denen wir kooperieren, und in unseren eigenen Betrieben. Allein in Oberösterreich erwirtschaften wir mit Restaurants, einer Näherei und Tischlerei etwa zehn Millionen Euro Umsatz pro Jahr.

Natürlich sind viele Krankheitsverläufe immer wieder von Phasen mit Nicht-Leistungsfähigkeit gekennzeichnet. Daher ist es im normalen Wirtschaftsleben nicht immer leicht, Menschen mit solchen Leiden zu integrieren. Dennoch lohnt es sich, genügend adäquate Arbeitsplätze zu schaffen. Einen Beruf und einen Arbeitsplatz zu haben hilft psychisch Kranken dabei, stabil, unabhängig und sozial integriert zu bleiben. Wer auch nur einen zehn bis 15-Stunden-Job hat, wird seiner Umwelt mit mehr Selbstbewusstsein begegnen und umgekehrt von dieser auch mit anderen Augen betrachtet werden.

Gesellschaftliche Partizipation ist ein unverhandelbares Menschenrecht

Leider befinden wir uns gerade in einem Teufelskreis: Immer mehr einfache Tätigkeiten fallen der Digitalisierung zum Opfer. Aktenträger z.B. gibt es im IT-Zeitalter einfach nicht mehr. Darunter leiden jene am meisten, die es trotz aller Begleitmaßnahmen einfach nicht schaffen, eine anspruchsvollere Tätigkeit zu verrichten.

Natürlich müssen Unternehmen kostenbewusst wirtschaften. Aber solche Arbeitsplätze mit öffentlichen Mitteln zu fördern, würde sich lohnen: Schließlich fällt ansonsten ein Vielfaches davon für die Behandlung und Betreuung von Menschen an, die mit der Kündigung ihren oft letzten Halt in der Gesellschaft verlieren.

Wir werden deshalb nicht müde werden, gerade für die Erhaltung von Arbeitsplätzen mehr Unterstützung von der Politik zu fordern. Schließlich ist das Recht zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht zuletzt auch in der Menschenrechtskonvention festgeschrieben. Dieses Menschenrecht muss auch für psychisch kranke Menschen unteilbar und nicht verhandelbar bleiben – sonst bleiben Schlagworte wie Partizipation und Inklusion leere Worthülsen.


Statement Prof. Schöny, 2. Teil

Psychosoziale Betreuung in Österreich: Große Defizite in der Versorgung und Prävention

Wir haben also in den vergangenen 40 Jahren viel erreicht. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in der Betreuung psychisch Kranker weiterhin massiven Verbesserungsbedarf gibt.

Psychotherapie auf Krankenschein für viele eine Illusion

Dabei geht es keinesfalls um orchideenhafte Forderungen aus der Sozialromantik. In Wahrheit scheitert unser System viel zu oft bereits an wirklich basalen Dingen. Es ist in Österreich völlig unvorstellbar, dass jemand, der Diabetes oder ein Herzleiden hat, keine ausreichende Behandlung bekommt. Bei psychischen Leiden ist das aber gang und gäbe.

Was wir an „Psychotherapie auf Krankenschein“ bieten, ist für den Bedarf bei Weitem nicht ausreichend. Für die Betroffenen heißt das: Entweder sie nehmen monatelange Wartezeiten in Kauf, oder sie bezahlen ihre Behandlung aus der eigenen Tasche. Das können sich aber gerade Menschen, die aufgrund ihrer psychischen Krankheit oft schon lange keiner Arbeit nachgehen können, selten leisten. Deshalb verhandeln wir etwa in Oberösterreich mit den Krankenkassen gerade wieder um eine Aufstockung der viel zu niedrigen Kontingente.

Differenzierte Angebote an Wohnplätzen schaffen

Problematisch ist auch die Wohnsituation. Derzeit stehen – je nach Jahreszeit – 1.000 bis 2.000 Menschen auf  einer Warteliste für einen betreuten Wohnplatz. Um diese abzubauen, müssen wir ein viel differenzierteres Angebot im Wohnbereich schaffen. Nicht alle Betroffenen müssen in einer Wohngemeinschaft mit ständiger Betreuung untergebracht werden. In vielen Fällen würde auch eine lockere Begleitung in größeren Abständen reichen. Wieder andere könnten ihr Leben sogar weitestgehend alleine meistern, scheitern aber an den bürokratischen und finanziellen Hürden einer Wohnungssuche.

Mindestsicherung ausbauen statt kürzen

Gerade auch in diesem Zusammenhang halte ich die aktuelle Diskussion um eine Kürzung der Mindestsicherung für höchst problematisch. In vielen Fällen reichen die Beträge jetzt schon nicht aus, den Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Dazu kommt, dass nicht nur die Mindestsicherung, sondern auch ergänzende Sozialleistungen in jedem Bundesland anders und unterschiedlich kompliziert organisiert sind. Gerade Menschen mit psychischen Problemen sind damit oft überfordert. Für jemanden, der ohnehin unsicher ist, kann der Weg zu fünf verschiedenen Ämtern, wo er jedes Mal scheel angeschaut wird, eine unüberwindbare Hürde darstellen.

Wir müssen endlich lernen, volkswirtschaftlich statt nur betriebswirtschaftlich zu denken. Wer Sozialleistungen kürzt oder immer weitere Zugangshürden einbaut, wird am Ende nicht nur neues Leid, sondern auch deutliche Mehrausgaben an anderer Stelle verursachen: Je weniger Menschen sich selbst erhalten können, desto mehr müssen wir in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen betreuen.

Prävention fängt schon bei Säuglingen an – Aufholbedarf bei Kindern und Jugendlichen

Um dem so früh wie möglich vorzubauen, wollen wir in unserer künftigen Arbeit den Aspekt der Prävention deutlich verstärken. Hier sehen wir vor allem bei Kindern und Jugendlichen einen großen Aufholbedarf. Zwar weiß inzwischen jeder, dass viele psychische Probleme ihre Wurzeln bereits in der Kindheit haben. Dennoch laufen unserer Forderungen, den Jüngsten mehr psychosoziale Aufmerksamkeit zu widmen, regelmäßig ins Leere.

Sinnvollerweise müsste Prävention schon im Säuglingsalter ansetzen. Bei den Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen etwa wird versucht, alle möglichen Gesundheitsrisiken frühzeitig zu erkennen. Nur ob ein Kind unter psychosozial soliden Bedingungen aufwächst, scheint niemanden zu interessieren. Dabei würde schon ein obligatorisches Gespräch mit psychologisch geschulten Expertinnen oder Experten helfen, um etwa Fälle von Alkoholmissbrauch in der Familie oder eine drohende Überforderung der Eltern zu erkennen.

Das Gleiche gilt für die Vorsorgeuntersuchungen: Obwohl wir wissen, dass es keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit geben kann, geht es auch dabei fast ausschließlich um körperliche Gesundheitsrisiken. Dabei könnten wir uns viele später aufwendig zu betreuende Fälle psychischer Leiden ersparen, wenn wir psychosozialen Aspekten wie Sucht oder psychischer Überforderung gleich hohe Aufmerksamkeit schenken würden.

Die im Gesamtzusammenhang kaum nennenswerten Mehrkosten dürfen bei solchen Überlegungen keine Rolle spielen: Es wäre absurd gerade da zu sparen, wo wir späteres Leid und weit höhere Kosten am effizientesten vermeiden können.

Was unsere Gesellschaft auch braucht ist „Erste Hilfe für die Seele“: Die Menschen sollten lernen, auf die ersten Anzeichen psychischer Probleme und Erkrankungen zu achten und, besser noch, ihnen vorzubeugen. Auch das ist ein Ziel von pro mente Austria, das wir mit unserer Aufklärungs- und Informationsarbeit sehr intensiv verfolgen.

 

 

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