Stellungnahme von pro mente Austria zum Entwurf des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes

Stellungnahme zum Entwurf eines Bundesgesetzes betreffend Grundsätze für die Sozialhilfe (Sozialhilfe-Grundsatzgesetz) sowie eines Bundesgesetzes betreffend die bundesweite Gesamtstatistik über Leistungen der Sozialhilfe (Sozialhilfe-Statistikgesetz)

GZ: BMASGK-57024/0002-V/B/7/2018

Sehr geehrte Damen und Herren,

Der österreichische Dachverband pro mente Austria möchte anlässlich des oben genannten Entwurfes binnen offener Frist Stellung nehmen. Wir beginnen unsere Stellungnahme mit ein paar grundsätzlichen Gedanken zum Wesen, Sinn und Zweck der „Sozialhilfe“ bzw. dem Armenwesen (nach Art. 12 B-VG) mit dem Fokus als Dachverband für psychische und soziale Gesundheit, der sich in Österreich um die Bedürfnisse von Menschen mit psychisch-sozialen Erkrankungen kümmert.

Allgemeine Anmerkungen
1. Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung als „unterstes/letztes“ soziales Netz:
Die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung ist das unterste und somit letzte Auffangnetz für notleidende Menschen. Sie soll soziale Ausgrenzung verhindern und Menschen vor dauerhafter Armut bewahren. Dieses Recht auf Unterstützung auf einem Mindestniveau orientiert sich am Bedarfsprinzip: Was braucht ein Mensch heute in unserem Land, um (über)leben zu können. Als unterstes/letztes soziales Netz hat man deswegen einen Anspruch, weil man Mensch ist, der sich in einer sozialen Notlage befindet und nicht, weil man zuvor in ein Versicherungssystem etwas einbezahlt hat.
Menschen mit Behinderungen haben/hatten manchmal noch nie die Möglichkeit(en), in Versicherungssysteme etwas „beizutragen“ und bewegen sich tendenziell im „untersten/letzten“ sozialen Netz.

2. Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung und „Menschenwürde“:
Somit ist es vor allem eine Frage der Menschenwürde, wieviel Notlagen auf Geldleistungs- und Sachleistungsniveau in Österreich abgefedert werden (können). Es ist seit jeher Aufgabe der Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung, ein menschenwürdiges Leben sicherzustellen und zu ermöglichen. Ziel der Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung ist die dauerhafte Einbeziehung in die Gesellschaft für jene, die dazu der Hilfe der (Solidar-)Gemeinschaft bedürfen (vgl. Erläuterungen, Allgemeiner Teil, Seite 1).
Menschen mit Behinderungen nicht auszugrenzen und sie dauerhaft als Teil der Gemeinschaft und Gesellschaft anzusehen, ist nicht nur im Art. 7 Abs 1 B-VG mit „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Die Republik (Bund, Länder und Gemeinden) bekennt sich dazu, die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten.“ prominent normiert, sondern ist Anspruch verschiedenster grund- und menschenrechtlicher Konventionen, in erster Linie der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die letztes Jahr ihr 10jähriges Bestehen (der Ratifizierung in Österreich) feierte.

3. Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung und soziale Ungleichheiten:
Soziale Ungleichheiten gibt es seitdem es Menschen gibt. Die Sozialhilfe bzw. („bedarfsorientierte“) Mindestsicherung verfolgt – wie im Gesetzesentwurf vermerkt – folgende Ziele:

  • Die Sozialhilfe stellt ein wesentliches Instrument dar, um Armut zu vermeiden und gleichzeitig die Betroffenen so rasch wie möglich zur (Re-)Integration in den Arbeitsmarkt zu führen (Erläuterungen, Allgemeiner Teil, Seite 1).
  • Wesentliche politische Aufgabe ist es deshalb, die Mindestsicherung österreichweit zukunftsfit zu machen, sowie fair und gerecht zu gestalten (Wirkungsorientierte Folgenabschätzung, Seite 2).
  • Präventive Hilfen (damit soziale Notlagen vermieden werden), Hilfe zur Selbsthilfe (Befähigung von Menschen, soziale Notlagen aus eigener Kraft abzuwenden und dauerhaft überwinden zu können) und Hilfen zur Bedarfsdeckung (damit die notwendigen Bedürfnisse von Menschen, die sich in sozialen Notlagen befinden, gedeckt werden können) führen zu einer nachhaltigen sozialen Stabilisierung (vgl. § 1 Abs. 2 Oö. BMSG).
  • Wachsende (oder auch gleichbleibende) Armut bzw. soziale Ungleichheiten, die sich negativ auf Menschen auswirken, sind ein gesamtgesellschaftliches Problem – nicht nur für den/die (armen) EinzelneN, sondern auch ökonomisch, sicherheitstechnisch u. ä. und gefährden den sozialen Frieden und den Zusammenhalt (in) der Gesellschaft.

Menschen mit Behinderungen befinden sich a priori in einer „sozial ungleichen Lage“. Niemand ist freiwillig behindert – und jede/jeder kann psychisch krank werden. Die besonderen (teilweise Not-) Lagen von Menschen mit Behinderungen sind im vorliegenden Gesetzesentwurf nicht ausreichend bedacht.

4. Arbeitslosenunterstützung, Notstandshilfe und Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung: Die geplanten Veränderungen in der Gesetzgebung bezüglich der Arbeitslosenunterstützung und der Notstandshilfe sind in ihrer Endversion noch nicht klar. Laut Berechnung des WIFO werden dadurch deutlich mehr Menschen mit Behinderung in Richtung der Sozialhilfe/Mindestsicherung gedrängt werden. Das stellt eine grundsätzliche Schlechterstellung dar, da von einer Versicherungsleistung in eine Hilfsleistung gewechselt werden muss.
Dieses nicht selbst verschuldete Abrutschen in die Sozialhilfe soll, zumindest laut Kommentar, nicht dazu führen, dass Menschen mit Behinderung durch Vermögensverwertung ihr mühsam für eventuell notwendige spätere Ausgaben Angespartes oder aus der Zeit vor der Behinderung Stammendes verlieren.
Diese Absicht ist zwar im Kommentar angeführt, aber im Gesetz in keiner Weise festgeschrieben und damit abgesichert. Es sollte daher im Gesetz selbst abgesichert werden, dass es bei Menschen mit Behinderung zu keiner Vermögensverwertung kommt.

5. Soziale Sicherheit ist Voraussetzung für psychische und soziale Gesundheit:
Soziale Sicherheit ist wesentlich und notwendig, um psychisch gesund zu bleiben bzw. zu werden. Jede Diskussion, die die soziale Sicherheit von Menschen mit psychischen Erkrankungen in Frage stellt bzw. eine Verschlechterung der Sozialhilfe herbeiführt (also die Mittel für den allgemeinen Lebensunterhalt und Wohnbedarf), macht Druck auf die Menschen – und dieser Druck steht einer Genesung und Rehabilitation der erkrankten Menschen entgegen. In diesem Sinne schaffen einige Punkte des Entwurfs dieses Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes Unsicherheiten und gehen an der Realität der Bedürfnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten von Menschen mit psychischen Erkrankungen vorbei.

6. Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung – „Zahlen und Wirkungen“:
Die Zahlen zur (bedarfsorientierten) Mindestsicherung (vgl. Vortrag an den Ministerrat vom 28. November 2018) zeigen einerseits einen Anstieg sowohl der BezieherInnen als auch der Kosten in den letzten Jahren. Nicht erwähnt sind über 70 % der MindestsicherungsbezieherInnen, sogenannte „AufstockerInnen“. Diese Menschen beziehen ein Einkommen oder eine Versicherungsleistung (z. B. Pension, Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe), liegen damit aber unter dem Ausgleichszulagenrichtsatz. „Zahlentechnisch“ wäre es demnach wahrer, die Sozialhilfe terminologisch als „Mindestsicherung“ zu belassen und aufgrund statistischer Werte (siehe oben) das Adjektiv „erforderliche“ zu ergänzen – in einer Zusammenschau würde der Begriff „erforderliche Grundsicherung“ der Zahlenrealität und dem Wirkungswollen mehr entsprechen als „bedarfsorientierte Mindestsicherung“ bzw. neuerdings wiederum „Sozialhilfe“.
Die Wirkungen der im Gesetzesentwurf einerseits artikulierten, integrationspolitischen und fremdenpolizeilichen Ziele und andererseits Ziele der Arbeitsmarktpolitik treffen auf Menschen mit Behinderungen nur bedingt zu. In manchen Gesetzesteilen gibt es sinnlogische Ausnahmen – in manchen Bereichen fehlt es an noch notwendigen Korrekturen, um nicht „unerwünschte Nebenwirkungen“ zu entfalten.

7. Änderungen zum IST-Stand – keine Verschlechterungen:
Grundsätzlich darf es zu keinen Kürzungen bei Menschen kommen, die jetzt schon (weit) unter der Armutsgefährdungsschwelle leben. Im Gesetz sollte grundsätzlich festgehalten werden, dass es zu keinen Verschlechterungen gegenüber dem IST-Stand kommen darf. Schon bisher waren v. a. Menschen mit Behinderungen von Armut und massiven Einschränkungen im Alltag betroffen. Das wird durch den nun vorgelegten Entwurf noch verstärkt – und dies voraussichtlich sehr unterschiedlich von Bundesland zu Bundesland, wenn es keine Klausel gibt, die besagt, dass es zu keinen Verschlechterungen zum IST-Stand kommen darf.

8. Somit stimmen wir den Stellungnahmen anderer Organisationen/Dachverbände insbesondere in folgenden Punkten zu:

  1. Die Tatsache, dass Menschen mit Behinderungen manchmal nicht alleine leben (können) und daher in (sozialtherapeutischen) Wohngemeinschaften leben, können grundsätzlich nicht mit dem Begriff der „Bedarfs-/Haushaltsgemeinschaft“ – wie in privaten Haushalten – abgebildet werden. Diese Besonderheit findet nicht ausreichend Beachtung. Daher läuft diese „Kollektivierung“ in der Bemessung von Leistungen darauf hinaus, gleichheitssatzwidrig zu sein. Es bedarf einer entsprechenden Definition von Bedarfs-/Haushaltsgemeinschaften für Menschen mit Behinderungen. Vorgeschlagen wird eine Lösung in dem Sinne, dass Menschen mit Behinderungen generell als eigene Haushaltsgemeinschaft eingestuft werden, unabhängig wo sie wohnen, da sie manchmal in der Wahl ihres Wohnortes nicht frei entscheiden können.
  2. In Artikel 28 UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verpflichtet sich Österreich dazu, Menschen mit Behinderungen das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard für sich selbst und ihre Familien zu gewährleisten. Die sich daraus ergebende völkerrechtliche Verpflichtung Österreichs, gerade in solch sensiblen Bereichen wie der Sozialhilfe österreichweit einheitliche Mindeststandards zu schaffen, wurde für Menschen mit Behinderungen mit diesem Entwurf zum Sozialhilfe-Grundsatzgesetz nicht ausreichend bedacht. Daher ist der jetzige Entwurf dahingehend zu überarbeiten, dass einheitliche Mindeststandards für ganz Österreich definiert werden, die von den Landesgesetzgebungen nur überschritten, aber nicht unterschritten werden dürfen.
  3. Zur Absicherung und Arbeitsmarktintegration von Menschen mit Beeinträchtigungen reicht nicht die Erhöhung von Taschengeldern in der Arbeits- bzw. Beschäftigungstherapie/Therapiewerkstätten aus, sondern eine sozialversicherungsrechtliche (also klassische kranken- und pensionsversicherungsrechtliche) Absicherung bzw. kollektivvertragliche Entlohnung.
  4. Der geplante Ausschluss nach § 4 Abs. 3 2. Satz des Entwurfs („Gleiches gilt für Personen, die wegen einer oder mehrerer mit Vorsatz begangener gerichtlich strafbarer Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von zumindest sechs Monaten verurteilt wurden, für einen der Freiheitsstrafe entsprechenden Zeitraum, frühestens ab dem Zeitpunkte der Rechtskraft des Urteils.“) ist abzulehnen. Der Entzug der Möglichkeit einer Überlebenssicherung als Strafe ist ein Akt, der in einer gut entwickelten und zivilisierten Rechtsordnung des 21. Jahrhunderts in Europa keinen Platz haben darf. Der Entzug der notwendigen Lebensgrundlage als Strafe würde gegen den Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Außerdem riskiert man damit einer erhöhte Rückfallrate.

Zu den Bestimmungen im Einzelnen:
In weiterer Folge beziehen wir uns wieder vordergründig auf die von uns vertretenen Menschen mit Behinderungen bzw. psychischen Erkrankungen.

Zu § 1 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Ein Grundsatzgesetz zur Schaffung von „Mindeststandards“ bzw. Vorgaben begrüßen wir. Die bisherige (bzw. für einige Jahre abgeschlossene) 15a B-VG-Vereinbarung war/ist eine Möglichkeit – ein Grundsatzgesetz dazu sicherlich der legistisch einwandfreiere Weg.
Die hier angeführten Ziele wurden anfangs schon grundsätzlich kommentiert.
Inwiefern die Leistungen der Sozialhilfe die optimale Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes weitest möglich fördern sollen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Wenn damit gemeint ist, dass volkswirtschaftlich betrachtet die Einkommen/Transferzahlungen von Menschen auf Sozialhilfe-/Mindestsicherungs-/Ausgleichszulagenniveau (mehr oder weniger) 1 : 1 aus der Transferleistung wieder in den Wirtschaftskreislauf fließen, weil mit so wenig Geld ohnedies nichts gespart werden kann, dann ist dies sicherlich wirtschaftspolitisch sinnvoll und somit auch arbeitsmarktpolitisch dienlich. Ansonsten ist v. a. aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen dieser Konnex „Sozialhilfe  Funktionsfähigkeit Arbeitsmarkt“ nicht ergründbar.

Zu § 2 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Die „Bedarfsbereiche“ der neuen Sozialhilfe umfassen neben dem Wohnbedarf den „allgemeinen Lebensunterhalt“. An dieser Stelle wäre es ein rechtliches Gebot der Stunde, einen direkten Konnex zur UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch legistisch herzustellen, wenn es um die „sonstigen persönlichen Bedürfnisse“ geht.
In den Erläuterungen, Besonderer Teil, Seite 2, wird dazu bereits explizit Bezug genommen, wenn z. B. auf die „angemessene soziale und kulturelle Teilhabe (vgl. § 3 Abs. 2 WMG)“ verwiesen wird. Im Größenschluss ist aus dieser Formulierung zu schließen, dass damit die verschiedensten „Teilhabe-Aspekte“ der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen für eben diese Zielgruppe zum Tragen kommen und unter dem Begriff der „sonstigen persönlichen Bedürfnisse“ subsumiert werden können. Die in weiterer Folge angeführte Erläuterung, Besonderer Teil, Seite 3, „Auch soziale Leistungen, die einem Sonderbedarf gewidmet sind, etwa bei Behinderung […] bleiben von diesem Gesetz unberührt (und unterliegen auch keiner Anrechnung, vgl. § 7 Abs. 2).“ geht in dieselbe Richtung. Es wäre hier vorzuziehen, die angesprochene UN-Konvention explizit zu erwähnen.

Überraschend kommt nun an dieser Stelle die für die Praxis wichtige Fragestellung der Anwendung des gegenständlichen Gesetzesvorhabens ausschließlich auf die „offene Sozialhilfe“, also Leistungen an Menschen, die in Privathaushalten leben.
„Die aufgestellten Grundsätze gelten daher etwa nicht für Unterstützungsleistungen im Rahmen der Kostendeckung von Heimaufenthalten von pflegebedürftigen Personen.“ Die genaue Konsequenz dieser Ausnahme ist unklar, da es natürlich und v. a. auch Menschen mit Behinderungen gibt, die in Institutionen leben und dort in den Rahmen der „geschlossenen Sozialhilfe“ fallen.
Der Versuch einer Interpretation:

  • Die Sozialhilfe bzw. Mindestsicherung ist eine personenbezogene Leistung aus öffentlichen Mitteln.
  • Unabhängig von der Wohnform (Privathaushalt oder institutionelle Wohnform) benötigen Menschen Geld für den allgemeinen Lebensunterhalt und die Sachleistung (oder Geld) für die Befriedigung des Wohnbedarfs.
  • Ob nun die Sozialhilfe an den einzelnen Menschen geht, der damit seinen Lebensunterhalt und Wohnbedarf bestreitet oder (mehr oder weniger) direkt zur Deckung des Lebensunterhalts und des Wohnbedarfs direkt an den Träger der institutionellen Wohnform, ist grundsätzlich irrelevant – in beiden Wohnformen kosten Lebensunterhalt und Wohnen Geld.

Der hier in den erläuternden Bemerkungen normierte Ausschluss der „geschlossenen Sozialhilfe“ ist nicht nachvollziehbar – hier bedarf es unbedingt einer gesetzlichen Klarstellung, wie die Grundsätze der Sozialhilfe für Unterstützungsleistungen im Rahmen der Kostendeckung von Heimaufenthalten von pflegebedürftigen Menschen aussehen sollen.
Apropos: Das Pflegegeld wird auch von und für Menschen mit Behinderungen bezogen.

Zu § 3 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Die Programmatik der „Bemühungspflicht der hilfebedürftigen Person“, v. a. was die (individuellen) arbeitsmarktpolitischen Ziele betrifft, wird zur Klarstellung in Abs. 4 – „soweit dieses Bundesgesetz keine Ausnahmen vorsieht“ – gut hervorgehoben. Diese notwendigen Relativierungen wünschen wir uns an mehreren Stellen (vgl. unsere Anmerkungen zu § 2).
Aus verwaltungsökonomischen Gründen ist die Befristung von 12 Monaten für die regelmäßige Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen durch die Behörden durchaus auf der einen Seite nachvollziehbar. Auf der anderen Seite seien hier, v. a. aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen, folgende Relativierungen anzumerken, ausgehend von einer Überprüfung der Auszahlung von € 933,06 (gültig ab 1.1.2019) eines alleinstehenden Menschen, der/die dann im Jahr € 11.196,02 erhält:

  1. Anträge zur Aufrechterhaltung der Unterstützung des Lebensunterhalts, weil man in einer sozialen Notlage ist, sind sehr oft mit Scham und Schuldgefühlen sowie Stigmatisierungen und Diskriminierungen verbunden. Ein moderner (österreichischer) Rechtsstaat könnte im 21. Jahrhundert diese „Aufrechterhaltung der BittstellerInnen-Rolle“ verlassen und Menschen ihre Rechte auf einfacherem Wege zuerkennen. Denn alle, die Sozialhilfe beziehen, sind BürgerInnen (und WählerInnen) dieses Landes. Gerade Menschen mit Behinderungen tun sich bei diesen Behörden-/Amtswegen unverhältnismäßig schwerer als andere.
  2. Es stellt sich bei der Höhe von etwas über € 11.000,– auch die Frage der Zweckmäßigkeit im Sinne der Sparsamkeit. Wenn man dabei zusätzlich die (fixen) Kosten für den Wohnbedarf wegrechnet, bleibt wenig übrig, um die Anspruchsvoraussetzungen jährlich zu überprüfen. Abgesehen davon stellt sich die Frage, welche neuen Ansprüche überhaupt kommen können und wie diese möglicherweise verwaltungsökonomischer bearbeitet werden können.
  3. Ad Verwaltungsökonomie: Könnten nicht durch weniger Kontrolle und mehr Transparenz/Vernetzung hier Einsparungen generiert werden, die nicht auf Basis und somit auch auf Kosten einer Bittstellerrolle der Betroffenen geschaffen werden.
  4. Aus den oben genannten Punkten und weil es bei Menschen mit dauernder bzw. chronischer Behinderung häufig zu nur geringen Veränderungen kommt, sollte für diese Gruppe zumindest die Möglichkeit einer längeren Befristung eröffnet werden.

Zu § 4 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Wir gehen davon aus, dass der Abs. 1 so zu interpretieren ist, dass Leistungen der Sozialhilfe an folgende 3 Gruppen zu gewähren ist:

  1. Österreichischen Staatsbürgern, unabhängig von der Dauer ihres dauerhaften tatsächlichen und rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet.
  2. Asylberechtigten, unabhängig von der Dauer ihres dauerhaften tatsächlichen und rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet.
  3. Fremden, die sich seit mindestens fünf Jahren dauerhaft tatsächlich und rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten.

Zum Ausschluss von der Bezugsberechtigung für Personen, die wegen einer oder mehrerer mit Vorsatz begangener strafbarer Handlungen zu einer Freiheitsstrafe von zumindest sechs Monaten verurteilt wurden, verweisen wir auf unsere Stellungnahme unter I. 8. 4.
Zu Z 5: Landesregelungen ist es hier erlaubt, ergänzende Regelungen temporär oder dauernd zu treffen. Damit wird die Rechtssicherheit in § 4 wieder geöffnet. Eine klare Regelung ohne diffuses Andeuten von negativen Möglichkeiten wäre für die Sicherheit und damit die Lebensqualität der betroffenen Menschen von essentieller Bedeutung.

Zu § 5 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Der Verweis (Erläuterungen, Besonderer Teil, Seite 4) auf den „Vergleich zu einem bescheidenen ortsüblichen Arbeitsnehmerhaushalt“ ist eine sehr unbestimmte Orientierungsgröße, nach der in Zukunft zu beurteilen sein wird. Hier bedarf es aus unserer Sicht einer klareren Formulierung.
Zu den Höchstsätzen gibt es mehrere Anmerkungen:

  • Grundsätzlich erachten wir es als bedenklich, wenn einerseits (z. B. Erläuterungen, Besonderer Teil, § 1) angemerkt wird, dass es der Landesgesetzgebung freisteht, Leistungen aus öffentlichen Mitteln, die an die soziale Hilfsbedürftigkeit der Betroffenen anknüpfen, mit weiteren Zielen im öffentlichen Interesse zu verbinden, andererseits aber in einer Grundsatzgesetzgebung Höchstsätze verordnet werden.
  • Es handelt sich somit um Maximalwerte, die gesetzeskonform nur durch Härtefallregelungen (der Länder) abgeändert werden können. Grundsätzlich muss davon ausgegangen werden, dass die jetzigen (unterschiedlichen) Höhen der Mindestsicherung der Länder (mindestens) notwendig waren, um ein (einigermaßen) menschenwürdiges Leben führen.
  • Es kommt zu einem Paradigmenwechsel von einer „bedarfsorientierten Mindestsicherung“ zu einer „maximal gedeckelten Sozialhilfe“ – aus Mindeststandards werden Maximalstandards auf niedrigem Niveau.
  • Eine Umstellung auf Mindeststandards ist, wie bereits in anderen Stellungnahmen erwähnt, für die Sicherheit bezüglich eines sozialen Auskommens auf niedrigem Niveau äußerst wichtig.
  • Der Begriff der „Bedarfs- oder Haushaltsgemeinschaft“ entfaltet für Menschen mit Behinderungen eine der größten Fallen im gegenständlichen Gesetzesentwurf: Es ist (noch) nicht klar, wie z. B. (sozialtherapeutische) Wohngemeinschaften diesbezüglich behandelt werden. Sollten diese sozialpsychiatrisch bzw. therapeutisch in vielen Fällen sehr sinn- und wirkungsvollen Einrichtungen unter eine „Haushaltsgemeinschaft“ fallen, würden viele Menschen mit Behinderungen aus für sie unerfindlichen Gründen massive Einschnitte bezüglich ihres Lebensunterhalts erfahren müssen.
  • Daher: Grundsätzlich sollte jeder Mensch mit Behinderung als eigene Haushaltsgemeinschaft gewertet werden. Die Wahl der Wohnmöglichkeit ist durch den Unterstützungsbedarf manchmal so eingeschränkt, dass die betroffenen Personen keine Wahl haben. Zusätzlich wird durch die gleichmäßige Verteilung auf alle Personen und die Deckelung die Abdeckung der basalen, in diesem Fall erhöhten Bedürfnisse, nicht mehr möglich. Die eine Regelung der Zuerkennung des erhöhten Bedarfs wird durch die andere der gleichmäßigen Verteilung wieder aufgehoben. Damit hat der Gesetzesentwurf einen Widerspruch in sich.
  • Die Formulierung in Abs. 2, Z 5 „zusätzliche anrechnungsfreie Beträge […], die […] Personen mit Behinderung […] zur weiteren Unterstützung des Lebensunterhalts gewährt werden können“, ist unsicher, da es sich um eine Kann-Bestimmung für die Länder handelt und die (errechneten) € 155,– zwar im Vortrag an den Ministerrat als „18% zusätzlich pro Person mit Behinderung“ (Seite 9) dargestellt werden und dies (auf Seite 11) als „Personen mit Behinderung profitieren“ auch rechnerisch/grafisch so dargestellt wird – aber lt. Gesetz weiterhin ein „kann“ beinhaltet. Es sollte vom Gesetzgeber klargestellt werden, ob es sich nun um eine Ausnahme der Höchstsatzberechnung handelt mit Kann-Variante seitens der Länder oder um eine Muss-Bestimmung für die Länder, wie es die Unterlagen des Vortrags an den Ministerrat vermuten lassen.
  • Abgesehen davon ist unklar, wie sich der zusätzliche Betrag für Kinder mit Behinderungen verhält, wenn sich eine zweite minderjährige Person im Haushalt befindet, da gemäß Abs. 3 der Gesamtbetrag auf alle Kinder gleichmäßig aufgeteilt werden muss. Damit würde aber der Zusatzbetrag seinen ursprünglichen Zweck und zwar die Abdeckung behinderungsbedingter Mehraufwendungen nicht mehr erfüllen.
  • Die Normierung der Invalidität als besondere soziale Rücksicht, dass kein Einsatz der Arbeitskraft bzw. keine arbeitsmarktbezogene Leistung verlangt werden darf, mit einem klaren Hinweis auf § 255 Abs. 3 ASVG, ist zu begrüßen – v. a. aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen.

Zu § 6 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Bezüglich Abs. 1 ist nicht nachvollziehbar, warum der Bund im gegenständlichen Entwurf in die Autonomie der Länder eingreift und ihnen die Gewährung von Wohnbeihilfen, Heizkostenzuschüssen oder weiteren Leistungen zur Befriedigung des Wohnbedarfs verbietet. Darin erachten wir eine unsachgemäße Behandlung von Menschen in Notlagen und fordern, dass ein gleichzeitiger Bezug von Leistungen nach § 5 und § 6 möglich ist.

Zu § 7 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Die Nichtanrechnung der Familienbeihilfe und anderer Absetzbeträge in Abs. 4 ist eine sehr begrüßenswerte Klarstellung, da es hier in den letzten Jahren mehrere Landesregelungen gab, wo das Verwaltungshandeln (noch) anders gelebt wurde. Somit verbleibt den Menschen mit Behinderungen, die Anspruch und auch die Notwendigkeit einer erhöhten Familienbeihilfe haben, dieses Geld für die Abdeckung ihrer zusätzlichen und besonderen Bedürfnisse.
Somit ist im selben Maße der Abs. 5 sehr klarstellend formuliert und verhindert, dass sich Menschen mit Behinderungen aufgrund unterschiedlicher Kostenträgerstellen rechtfertigen müssen, dass sie für die Deckung ihres Sonderbedarfs verschiedene Zahlungen erhalten. Die normierte

Obliegenheit für die Landesgesetzgebung, hier die Leistungen im Einzelnen zu bezeichnen, ist sehr zu begrüßen. Das Schonvermögen, also die Nicht-Übersteigung von 600 % des Netto-Ausgleichszulagenrichtsatzes wirkt auf den ersten Blick sehr hoch – ist aber in Wirklichkeit (auf Basis 1.1.2019) ein Betrag von € 5.598,36. Alles, was über diesen Betrag hinausgeht, muss zunächst „aufgebraucht“ werden (mit ein paar Ausnahmen in Abs. 8). Wenn man an dieser Stelle die Frage einer Erbschafts- oder Vermögenssteuer ins Spiel bringt, ist diese „Schonvermögensregelung“ die wohl höchste und härteste Steuerregelung für Eltern, v. a. von Menschen mit Behinderungen, die ihren Kindern etwas „vermachen“ wollen: Alles, was monetär von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, wird bis auf einen Betrag von ca. € 5.500,– steuerlich zu 100 % belastet.

Menschen mit psychischen Erkrankungen bzw. Behinderungen erleiden diese Erkrankungen/ Behinderungen unfreiwillig oft erst später im Leben. Angespartes dieser Menschen geht verloren, ohne dass sie eine Chance besitzen, durch persönliche Anstrengung aus dieser Situation zu entkommen. Diese als Anreiz für die Rückkehr in die Arbeit gedachte Maßnahme wirkt für diese Gruppe fast zynisch. Daher fordern wir, dass das gesamte Vermögen von Menschen mit Behinderungen von der Anrechnung ausgenommen wird.

Zu § 8 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Wir gehen davon aus, dass diese Formulierungen den bestehenden Anforderungen der DSGVO entsprechen.

Zu § 9 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Der Begriff „wirksame Sanktionen“ ist verständlich und nachvollziehbar – der Begriff „abschreckende Sanktionen“ suggeriert kriminelle Energien seitens Menschen in Notlagen und gehört nicht in die Sozialgesetzgebung (genauso in § 5 Abs. 10).

Zu § 10 Sozialhilfe-Grundsatzgesetz:
Es ist durchaus zeitlich herausfordernd, nach einem Inkrafttreten eines Bundes-Grundsatzgesetzes innerhalb von 6 Monaten die jeweiligen Landes-Ausführungsgesetze erlassen zu müssen.
Aus der Sicht der RechtsanwenderInnen bzw. v. a. Menschen mit Behinderungen bestehen hoffentlich nicht zu viele Unsicherheiten und unbestimmte Rechtsbegriffe, die dann evtl. von einer (bundesgesetzlichen) Ebene auf die nächste (landesgesetzliche) Ebene weitergetragen werden. Dann wäre den Grundgedanken dieses Gesetzesentwurfs einer „Vereinheitlichung“ nicht wirklich Rechnung getragen worden. Der Aspekt der notwendigen Sicherheit für Menschen mit psychischen Erkrankungen wurde bereits unter I. 4. ausführlich dargelegt.

Sozialhilfe-Statistikgesetz:
Ob aus Gründen der „sprachlichen Präzision“ anstelle von „statistischen Daten“ nun von „Merkmalen“ gesprochen werden kann, möchten wir hier datenschutzrechtlich in Frage stellen. Es handelt sich um „pseudonymisierte“ Daten, die lt. den Erläuterungen „noch iwS personenbezogene sind“. Die terminologische und bevorzugende Begründung mit dem neutraleren Begriff „Merkmal“ erweckt zumindest den Anschein, dass hier datenschutzrechtlich genau beim Vollzug darauf geachtet werden muss, dass grund- und menschenrechtliche Standards nicht verletzt werden.

Zum Anhang im Vorblatt und Wirkungsorientierte Folgenabschätzung:
Die Berechnungen v. a. bezüglich Menschen mit Behinderung ist nicht nachvollziehbar.
Wenn von einem monatlichen Betrag von ca. € 155,– ausgegangen wird, würde dies 2020 bei einer Summe von etwa € 28,4 Mio. ca. 15.000 Menschen mit Behinderung betreffen. Warum dann dieser Betrag 2021 so eklatant steigt und dann wieder 2022 relativ stabil bleibt, ist nicht nachvollziehbar – bzw. müsste rechnerisch heißen, dass in der Folgenabschätzung schon jetzt bekannt ist, dass es 2021 um über 5.000 mehr Menschen mit Behinderung geben wird.

pro mente Austria bedankt sich an dieser Stelle für die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme und ist sehr gerne bereit, in einem weiteren, vorzugsweise (in Anlehnung an die Gesetzesgenese des Erwachsenenschutzrechts) partizipativen Prozess ihre Expertise einzubringen – v. a. was die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen (speziell psychische Problemstellungen) betrifft.

Mit dem Ersuchen um Berücksichtigung obiger Ausführungen verbleiben wir mit freundlichen Grüßen

Dr. Günter Klug
Präsident pro mente Austria