Stellungnahme zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Bundespflegegeldgesetz geändert wird

Stellungnahme von pro mente Austria – Österreichischer Dachverband der Vereine und Gesellschaften für psychische und soziale Gesundheit – zum Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Bundespflegegeldgesetz geändert wird.

pro mente Austria ist der Dachverband von 24 gemeinnützigen Organisationen, die in Österreich im psychosozialen und sozialpsychiatrischen Bereich tätig sind.

Ziel von pro mente Austria ist es, das Leben und die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen nachhaltig zu verbessern und sie und ihr soziales Umfeld zu unterstützen und zu stärken.

Das Angebot der 24 Mitgliedsorganisationen von pro mente Austria ist breit gefächert. Sie betreuen österreichweit mit rund 4.600 MitarbeiterInnen jährlich ca. 100.000 Menschen mit psychischen oder psychiatrischen Problemen bzw. Erkrankungen.

Aus diesem Grund bezieht sich die Stellungnahme auf den Text aus dieser Sicht.

pro mente Austria schließt sich grundsätzlich den Ausführungen der Stellungnahme des Österreichischen Behindertenrates an und möchte an dieser Stelle folgende Themen und Aspekte wie folgt verstärken:

  1. promente Austria begrüßt die seit langem notwendigen Verbesserungen im Bereich des Pflegegeldes – vor allem für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen.
  2. Den rechtlichen Vorgaben und Grundsätzen der UN‐Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen folgend bedarf es eines Ausbaus an mobilen Angeboten für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen als Ergänzung zum Pflegegeld. Damit können nicht nur die Wahlfreiheit und dem Prinzip „mobil vor stationär“ Rechnung getragen werden, sondern auch kurz, mittel‐ und langfristig Kosten gespart werden.
  3. Die Erhöhung des Erschwerniszuschlags von 25 auf 45 Stunden pro Monat ist selbstverständlich zu begrüßen. Gleichzeitig bleibt im Gesetzesvorschlag unklar, wie diese Bemessung vor sich gehen soll. Neben den – noch in weiterer Folge umfassender ausgeführten Anmerkungen zum ICF – bedarf es einer anderen und professionellen Unterstützung für die Gutachter*innen: Es ist für uns nicht klar, wie eine dementsprechende Festlegung einer „schweren psychischen Behinderung“ durch die Gutachter*innen fachlich und professionell unterstützt werden soll.

    In diesem Zusammenhang ersuchen wir dringend, die – in der Regel langjährigen Expertisen von tatsächlich betreuenden Personen – in die Begutachtungen mit einfließen zu lassen. Dies kann in der Regel niederschwellig, einfach und unbürokratisch über die gesetzlich verpflichtenden und notwendigen Dokumentationsunterlagen erfolgen. Menschen mit „schweren psychischen Behinderungen“ werden in der Regel schon viele Jahre lang betreut, weswegen es hier ausreichend abgesicherte und multiprofessionell erstellte Dokumentationsunterlagen existieren.

Wenn für die Zuerkennung einer „schweren“ psychischen Behinderung pflegeerschwerdende Faktoren wie Defizite der Orientierung, des Antriebs, des Denkens, der planerischen und praktischen Umsetzung von Handlungen, der sozialen Funktion und der emotionalen Kontrolle berücksichtigt werden müssen (vgl. EB zur RV zu Z 18 [§ 48g Abs. 1 bis 3 und 6], S 4) und sich sodann als „schwere Verhaltensstörung“ äußern, dann sind diese allesamt aus den Dokumentationsunterlagen der professionell betreuenden Personen herauslesbar.

Diesem Gedanken folgend stellt das Bundespflegegeldgesetz seit seiner Einführung eine nicht adäquate Lösung für Menschen mit psychischen Problemen/Behinderungen dar:

  1. DieEinstufungwurdevielzusehraufkörperlicheBedürfnisseund Einschränkungen fokussiert und nur diese mit einem Zeitfaktor versehen.
  2. EinschränkungenvonMenschenmitpsychischen Problemstellungen/Behinderungen und den sich daraus ergebenden „Pflegebedarfen“, die zwar der klassischen Definition von Pflege nicht entsprechen, aber für die Personen zwingend notwendig und für die betreuenden Personen zeitaufwendig sind, werden nicht berücksichtigt. Hier seien besonders Zeiten der Erklärung von Texten und Befunden, Einsamkeitsprophylaxe, Übung alltäglicher Fähigkeiten, Motivation zur Hygiene und Ernährung, die an sich selbständig möglich wären, Betreuung und Beaufsichtigung bei dementiellen oder anderen Verwirrtheitszuständen etc. erwähnt.

Da das Gesetz grundsätzlich einen rein somatischen, und nicht mehr dem Standard der Zeit mit dem Ziel Inklusion, entsprechenden Ansatz verfolgt, wäre es sinnvoll, das Gesetz völlig neu aufzusetzen. Als Basis einer modernen Einschätzung der individuellen Notwendigkeiten, auch mit Betrachtung der Einflüsse der Umgebung und Rahmenbedingungen muss ein moderner Ansatz dieser Art auf dem ICF (International Classification of Functioning) beruhen. Aus diesem können Checklisten erstellt werden, die es den Gutachter*innen, nach einer kurzen Einschulung ermöglichen, umfassende und der individuellen Problemstellung angepasste Beurteilungen und Einstufungen abzugeben.

pro mente Austria hat in einem aufwendigen Generierungsprozess ein entsprechendes Tool erarbeitet. Dieses Tool wurde multiprofessionell und multiperspektivisch mit Involvierung von Erfahrungsexpert*innen (Verein Lichterkette und strada OÖ) entwickelt und dementsprechend auf einem partizipativen Ansatz beruhend ausgearbeitet. Mit diesem System wäre eine moderne, auch den psychischen Problemstellungen/Behinderungen entsprechende Ein‐ und Abstufung möglich. Die Festlegung der finanziellen Höhe der einzelnen Stufen würde dann wieder der Politik obliegen. Sie muss allerdings so gewählt werden, dass es zu einer Verbesserung der Situation aller Gruppen und einer entsprechenden Anpassung der Menschen mit psychischen Problemstellungen/Behinderungen kommt.

Alle im bisherigen Vorschlag enthaltenen Veränderungen sollte im Sinne des oben genannten gar nicht erst eingeführt, sondern so rasch wie möglich auf das erwähnte moderne System umgestellt werden.

Weitere Aspekte, die uns als pro mente Austria wichtig sind:

In weiteren Materialien zum Gesetzesentwurf – sowohl in den EV zur RV (S. 1) als auch im Anhang (Detaillierte Darstellung der finanziellen Auswirkungen) – wird von rund 8.500 Personen gesprochen, die von dieser Maßnahme profitieren würden.

Diese Maßnahme umfasst die bessere Unterstützung von Menschen ab dem 15. Lebensjahr mit einer schweren psychischen oder geistigen Behinderung, insbesondere einer demenziellen Beeinträchtigung. Diese Schätzungen können wir nicht nachvollziehen, weil sie aus unserer Sicht um ein Vielfaches zu gering angesetzt sind und einen Großteil der Zielgruppe/n nicht erfassen würden.

Wir gehen davon aus, dass die Ausführungen für die Zuerkennung eines Erschwerniszuschlags für pflegeerschwerende Faktoren analog den höchstgerichtlichen Urteilen und der einhelligen Rechtsmeinung zutreffen (vgl. EB zur RV, S. 4 – sowohl OGH 10 ObS 99/10x bzw. Greifeneder/Liebhart, Pflegegeld 2017, Rz 5.333). Weiters wissen wir aus unserer alltäglichen Erfahrung im Umgang, in der Arbeit und Pflege von Menschen mit psychischen Behinderungen (insbesondere auch demenziellen Erkrankungen) von einer mindestens 10mal so hohen Anzahl an Menschen mit Behinderungen, für die der nun erhöhte Erschwerniszuschlag (45 statt 25 Stunden) relevant wird.

Bei einer Annahme von nur ca. 8.500 Menschen mit schweren Behinderungen kommt es unserer Einschätzung nach zu gleichheitswidrigen Konsequenzen bzw. langwierigen Zuerkennungsverfahren, die dem Willen des Gesetzgebers nicht entsprechen würden. Wenn die tatsächliche Pflegeerschwernis maßgebend ist, muss auch die tatsächliche Anzahl von Menschen mit schweren Behinderungen, die Pflege benötigen, den Ausschlag geben, wie viele Personen in den erhöhten Erschwerniszuschlag kommen. Vor diesem Hintergrund müssten aus unserer Sicht die finanziellen Auswirkungen neu bewertet werden.

pro mente Austria bedankt sich an dieser Stelle für die Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme und ist sehr gerne bereit, in einem weiteren partizipativen Prozess ihre Expertise einzubringen – v. a. was die Bedürfnisse, Fähigkeiten und Möglichkeiten von Menschen mit psychiatrischen, psychischen oder psychosozialen Problemstellungen betrifft.

Mit dem Ersuchen um Berücksichtigung obiger Ausführungen verbleiben wir
mit freundlichen Grüßen

PDoz.Dr. Günter Klug Präsident pro mente Austria